„Ich erlebe die Violetta wirklich!“

LA TRAVIATA. Vom 7. Januar an ist Elbenita Kajtazi, seit 2018 Mitglied im Opernensemble der Staatsoper Hamburg, in der Titelpartie der Violetta Valéry zu hören. Im Interview spricht die Sopranistin über den Anspruch, ihre Figuren für das Publikum emotional erlebbar zu machen, über die verblüffende Modernität der Themen, die Violettas Lebenskrisen bestimmen und darüber, warum diese Wiederaufnahme eigentlich eine kleine Premiere ist.

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Maximilian Probst

Als „la traviata“ ist die Kurtisane Violetta „die vom Weg Abgekommene“ – was bedeutet das in deinen Augen?

Für mich bedeutet „die vom Weg Abgekommene“ nicht, dass Violetta moralisch gescheitert ist, sondern dass sie in einer Zeit und Gesellschaft lebt, die für eine Frau wie sie keinen Platz hat. Gerade deshalb berührt mich ihre Geschichte so sehr: Sie kämpft darum, ihren eigenen Weg zu finden, und für einen kurzen Moment gelingt ihr das auch. „Abgekommen“ ist sie also eher aus Sicht der anderen: der Bourgeoisie, die über sie urteilt, ohne sie wirklich zu sehen.

In meinen Augen ist Violetta trotz ihrer äußeren Fassade verletzlich, mutig und zutiefst menschlich. Sie ist eine Frau mit großer Sensibilität, mit Sehnsucht nach Liebe und echter Nähe. Hinter ihrer glitzernden Fassade steckt ein unglaublich empfindsames Herz. Für mich ist sie eine Frau, die trotz aller Brüche eine große innere Reinheit bewahrt – und genau deshalb lieben wir sie heute noch.

Guiseppe Verdis Grundlage für das Melodramma (1853) war die fünf Jahre zuvor als Roman und ein Jahr zuvor als Drama veröffentlichte Kameliendame von Alexandre Dumas d.J. Wie geht Violetta mit deren Themen Krankheit, Liebe, Tod um? Was spüren wir in der Musik, in ihrer Partie, ihren Arien? Welche Entwicklung macht sie durch?

Violetta lebt im Spannungsfeld von Krankheit, Liebe und gesellschaftlicher Isolation, und Verdi zeichnet diese Themen mit erstaunlicher Feinheit. Zu Beginn begegnet sie allem mit Trotz und Verdrängung; in „Sempre libera“ hört man ihren verzweifelten Versuch, sich an die Illusion von Freiheit zu klammern, während die Brillanz der Koloraturen eine tiefe Unsicherheit überdeckt. Mit Alfredo tritt zum ersten Mal echte Zärtlichkeit in ihr Leben. Die Musik wird weicher, verbindlicher, und zeigt eine verletzliche, hoffnungsvolle Violetta, eine Stärke, die aus ihrer Bereitschaft entsteht, sich zu öffnen. Die Begegnung mit Germont ist der Wendepunkt. In „Dite alla giovine“ beweist Violetta tragische Größe, indem sie ihr eigenes Glück opfert, kein Zeichen von Resignation, sondern tiefster Menschlichkeit. Im letzten Akt erscheint sie fast heilig verklärt: zerbrechliche Linien, verrinnende Zeit, aber eine große innere Würde. In „Addio del passato“ spürt man Schmerz und Frieden zugleich. Ihr Weg führt von der Fassade zur Wahrheit, von äußerem Glanz zu innerer Tiefe. Am Ende ist Violetta nicht gebrochen, sondern erleuchtet.

Wo siehst du eine Verbindung zu unserer modernen Gegenwart?

Ich sehe in Violetta eine Figur, die heute vielleicht aktueller ist als zu Verdis Zeit. Ihre Geschichte erzählt von einer Frau, die in Rollen gedrängt wird, die nicht zu ihr passen, und genau das erleben viele Menschen auch heute, den Druck, perfekt zu sein, Erwartungen zu erfüllen, anderen zu gefallen. Violetta kämpft darum, trotz aller Urteile sie selbst zu sein. Diese Suche nach Identität, nach einem eigenen Platz in der Welt, ist etwas sehr Modernes.

Auch ihre Krankheit, das langsame Verschwinden aus dem gesellschaftlichen Leben, erinnert an Themen, die uns heute beschäftigen: Burnout, Isolation, das Gefühl, trotz äußerem Glanz innerlich auszubrennen. Und natürlich gibt es die gesellschaftliche Doppelmoral, die bis heute existiert: Frauen, die frei leben, die selbst bestimmen wollen, werden immer noch schnell verurteilt. Violetta zeigt uns, wie brutal solche Urteile sein können, und wie viel Mut es kostet, sich dennoch selbst treu zu bleiben. Ihre Geschichte ist also nicht altmodisch. Sie ist ein Spiegel. Und deshalb berührt sie uns immer noch so tief. 

Es geht auch um Einsamkeit. Um den Wunsch nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft. Auch das ein Thema des 21. Jahrhunderts.

Absolut, vielleicht sogar mehr als je zuvor. Violettas Geschichte ist von einer Einsamkeit durchzogen, die wir heute sofort wiedererkennen. Man kann ständig im Austausch sein, sichtbar, präsent, und sich trotzdem zutiefst allein fühlen. Ihr Wunsch nach Zugehörigkeit, nach einer Gemeinschaft, in der sie einfach „sein“ darf, ist etwas sehr Modernes. Ihre unglaubliche Sehnsucht nach Nähe berührt mich. In einer Zeit, in der wir ständig vernetzt sind und uns dennoch oft einsam fühlen, hat Violettas Wunsch nach echter Liebe, nach einem Menschen, der sie wirklich sieht, eine starke Gegenwart.

Siehst du Berührungspunkte zu einer heutigen jungen Generation, so dass diese Oper vielleicht gerade auch junge Leute ansprechen und ihnen etwas mitgeben kann?

Ja, absolut. Ich glaube sogar, dass La traviata für junge Menschen heute besonders relevant ist. Violetta verkörpert viele Themen, die die junge Generation sehr gut kennt: den Druck, sich zu beweisen, ständig „funktionieren“ zu müssen, eine perfekte Fassade zu zeigen, und gleichzeitig innerlich mit Zweifeln, Ängsten und Einsamkeit zu kämpfen. Viele junge Menschen spüren heute dieselbe Spannung zwischen Außenbild und Innenwelt, die Violetta durchlebt. Die Fragen: Wer bin ich wirklich? Und darf ich so sein? sind heute so aktuell wie damals. Diese Oper zeigt uns etwas zutiefst Wertvolles: Sie erinnert uns daran, dass hinter jedem Menschen eine Geschichte steht, die man nicht auf den ersten Blick erkennt.

Vielleicht auch wegen des Bühnenbildes von Annette Kurz: Die Inszenierung von Johannes Erath spielt zwischen Autoscootern … Ansonsten ist die Bühne leer, schwarz, kein Ausstattungswunder, wie man es eher von einer klassischen Oper gewohnt ist. Wie fühlt sich das für dich als Sängerin der Titelpartie an?

Für mich als Sängerin fühlt sich dieses Bühnenbild unglaublich befreiend an, ich liebe es. Die Leere, das Schwarze, der große offene Raum, all das nimmt der Inszenierung jede Ablenkung und legt den Fokus ganz auf die Figuren und ihre inneren Welten. Es gibt keinen dekorativen Schutz mehr. Man kann sich nicht hinter schönen Kulissen verstecken. Jede Geste, jede Regung hat Gewicht, weil sie sofort sichtbar wird.

Dass sich die Drehbühne dabei wie Violettas Emotionen immer schneller und schneller dreht, gibt mir Adrenalin und Feuer. Und die Autoscooter, dieser surreal glitzernde Moment aus der Welt des Vergnügens, unterstreichen ihre Zerrissenheit wunderbar. Es ist eine scheinbar bunte Oberfläche, unter der sich aber eine tiefe Einsamkeit verbirgt. Das empfinde ich als sehr modern und gleichzeitig sehr menschlich. Für mich bedeutet diese Art Bühne: totale Konzentration, große emotionale Offenheit und eine besondere Nähe zum Publikum, das „behind the stage“ blickt. Und genau daraus entsteht eine Intensität, die ich für Violetta als absolut richtig empfinde.

„Behind the stage” bedeutet also zugleich: „behind the skin”?

Exactly! Du bist exponiert, wie nackt: Zeig uns, was du kannst und wer du bist und was du machst. Ich spiele in dieser Produktion mit Fingern, mit Knien, mit Augen … alles muss da sein, du kannst nicht eine Sekunde unkonzentriert sein! Du musst vom Anfang bis zum Ende Violetta sein!

Es ist deine zweite Saison als Violetta hier in Hamburg. Was ist diesmal anders?

Als zweite Besetzung hatte ich nicht viel Zeit mich wirklich mit der Rolle auseinanderzusetzen. Jetzt geht diese Arbeit richtig tief und das macht einen großen Unterschied.

Dann ist diese Wiederaufnahme also eigentlich wie eine Premiere für dich?

Für mich? Ja! Denn jetzt erhält jede Bewegung einen Sinn. Ich kann es kaum erwarten, die Rolle wieder zu singen! Es ist unglaublich, in wie vielen verschiedenen, auch heutigen Situationen man diese Figur darstellen kann. Ich habe sie schon in Essen, in Bordeaux und an der Deutschen Oper in Berlin gesungen, und immer finde ich etwas von ihr in mir. Dadurch kann ich eigene Emotionen in die Rolle legen und an das Publikum weitergeben.

Heißt das, du lernst mit jeder Produktion auch ein Stück von dir kennen?

Immer. Ich kann eine Rolle nicht oberflächlich auf die Bühne bringen. Du kannst eine Violetta oder Mimi oder Manon oder Carmen nicht einfach spielen. Ihre Geschichten sind so sensitiv, du musst sie erleben. Und ich erlebe die Violetta wirklich. In diesen drei Stunden ertrinke ich in ihrer Geschichte. Und wenn ich nach Hause gehe, kann ich eigentlich nicht schlafen, so sehr analysiere ich immer noch die Figur.

Das klingt unheimlich intensiv. Wann bist du dann wieder du selbst?

Erst wenn ich meinen Sohn umarme, bin ich wieder Elbenita. [Lacht.] Das macht schon ein bisschen müde manchmal. Aber dafür bin ich da: Ich bin da für das Publikum. Alles nach außen zu kehren und auf die Bühne zu tragen, was ich fühle, in meinem Herz und meiner Seele und meinen Gedanken – das ist meine Mission. Ich komme aus dem Kosovo, aus einem Land, das noch kein Opernhaus hat, und singe in den besten Opernhäusern der Welt. Dafür bin ich sehr dankbar und deswegen möchte ich alles geben. Das Publikum war so großzügig, hier und überall dort, wo ich gesungen habe – das hat mein Leben verändert.

Und Verdis Oper ist ein absoluter Publikumsliebling – merkst du auf der Bühne, wie das Publikum mitgeht? Macht das besonders Spaß? Oder ist es auch eine Herausforderung, weil bei einem Stoff, den viele zu kennen glauben, die Erwartungen so hochgesteckt sind?

Ja, absolut, man spürt bei La Traviata sofort, dass das Publikum eine besondere Beziehung zu dieser Oper hat. Du kannst keinen anderen Weg gehen: Die Musik ist so unglaublich schön komponiert und jedes Wort passt super auf die Orchestrierung – das nimmt dich mit! Diese Energie trägt mich als Sängerin unglaublich. Wenn man merkt, wie das Publikum emotional mitgeht, wie es mit mir atmet, wenn ich atme, wie es schweigt und reagiert, dann entsteht eine besondere Verbindung, die einem wirklich Kraft gibt.

In solchen Momenten macht es natürlich enorm viel Spaß, weil man fühlt, dass die Geschichte alle erreicht. Gleichzeitig ist es aber auch eine Herausforderung. Viele Zuschauer kennen die Oper seit Jahren, manche haben ihre ganz persönlichen „idealen“ Momente im Kopf, Lieblingsaufnahmen, Lieblingsinterpretationen. Da sind die Erwartungen hoch, und das ist auch gut so.

 

Das Gespräch mit Elbenita Kajtazi führte Teresa Grenzmann am 11. Dezember 2025.